#JAber —
Bilder von leeren Regalen im Supermarkt. Wo der Platz sonst eine große Auswahl einer beliebten Nudelsorte vermuten lässt, sieht man nun auf dem Foto im Netz auf Tagesschau.de nur noch einzelne, einsame Packungen. Scheinbar der letzte Rest, den eine Horde kaufwütiger Kunden zurückgelassen hat. Oder waren es nur ein paar wenige, die aus Versorgungsängsten anlässlich der Corona-Epidemie gleich ihren ganzen Jahresvorrat „gehamstert“ haben?
Bilder können unsere Meinung bestimmen und unser Handeln motivieren. Sie haben daher Macht, und es braucht Sorgfalt im Umgang mit ihnen. Doch dieses Bild aus Tagesschau.de war leider unglücklich gewählt, denn die vermeintliche „Nudelkrise“ hat nichts mit der etwas angespannten „Virus-Situation“ zu tun, sondern ist tatsächlich ein marktwirtschaftliches Problem zwischen deutschen Handelsgruppen und dem Pastahersteller „Barilla“.
Fakt ist dennoch: Deutsche kaufen seit dem Wochenende vermehrt langlebige Produkte auf Vorrat – Berichten zufolge meldet der Handelsverband ein Gewinnplus von bis zu 40%. Als Hamsterkäufe werden diese aus Sorge vor einem bevorstehenden Krisenzustand getätigten Großeinkäufe bezeichnet. Forscher und Politiker warnen vor diesem Herdenverhalten, das eine Eigendynamik bekommen und eine gefährliche Hysterie auslösen kann.
Aber wieso machen wir das eigentlich? Wir sind doch mündige, rationale Lebewesen die ihre Entscheidungen wohl überlegt treffen. Eben nicht! Der Ökonom Richard Thaler und der Jurist Cass Sunstein sind der Meinung, im Alltag handelt der Mensch emotionsgetrieben und unvernünftig. Er orientiert sich an seinen eigenen Routinen und trifft dabei eine Fehlentscheidung nach der anderen. Wir wissen, dass die tägliche Tafel Schokolade auf Dauer dem Körper schadet, ebenso wie der Konsum einer ganzen Schachtel Zigaretten am Tag. Wir wissen, dass der Becher für den Coffee-to-go schlecht für die Umwelt ist und dass man im Januar lieber keine Erdbeeren kaufen sollte. Wir wissen, dass wir manche Dinge nicht tun sollten, aber unsere Vernunft unterliegt meist der täglichen Routine, unseren spontanen Bedürfnissen schnellstmöglich nachzugeben.
Die Wissenschaft dazu heißt „Soziophysik“ und versucht, das Verhalten einer Gruppe verschiedener Individuen vorhersagen zu können. Es geht beispielsweise um die Erforschung, wie sich Verkehrsstaus vermeiden lassen oder darum, wie eine Menschenmasse bei Großveranstaltungen in Paniksituationen reagiert. Die amerikanischen Verhaltensforscher Sunstein und Thaler haben 2008 eine Idee entwickelt, wie man ganze Menschengruppen zu rationalen Entscheidungen im Alltag verhelfen und deren „Herdenverhalten“ steuern kann – ohne dafür Verbote oder finanzielle Anreize zu setzen. Den Begriff, den sie dafür geprägt haben ist „Nudging“, aus dem Englischen für „anstubsen“. Das berühmteste Beispiel dafür hat vermutlich die Hälfte unserer Bevölkerung schon gesehen. Auf der Herrentoilette gibt es im Urinal eine aufgeklebte Kerze, eine Fliege oder ein Plastik-Fußballtor. Diese kleinen Konstruktionen sollen dafür sorgen, dass sich der Mann treffsicher im Porzellan erleichtert und nichts daneben geht – Und das klappt laut Ansicht der Forscher durch diese kleine Maßnahme um bis zu 80% seltener. Nudges sind also kleine Entscheidungshilfen in alltäglichen Situationen. Kritiker, wie der Psychologe Gerd Gigerenzer, geschäftsführender Direktor vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, warnen allerdings davor, dass Nudging Menschen bevormunden und manipulieren würde.
Seit 2010 ist Nudging in der Politik angekommen. Amerikanische Politologen versuchten, über Facebook hartnäckige Nichtwähler an die Urne zu locken, indem ihnen dort das nächste Wahllokal angezeigt wurde, versehen mit der Info, wie viele ihrer „Freunde“ schon gewählt hätten. Dieser kleine Nudge sorgte für ein beeindruckendes Ergebnis. Durch den sozialen Herdentrieb wurden rund 400.000 zusätzliche Wähler zur Stimmabgabe animiert. Positiv betrachtet könnte Nudging als eine Form des sogenannten „Social Engineerings“ ein gutes Instrument für mehr Demokratie sein, doch die Gefahr, die davon ausgehen kann, sollte nicht unterschätzt werden. Denn das prominenteste Beispiel von Social Engineering, also das Steuern von ganzen Gesellschaften, passierte während der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016. Eine ganze Armee von „Bots“ – programmierte Algorithmen, die als User getarnt Meinungen verbreiten – hat auf Twitter ein verzerrtes Bild der Gesellschaft wiedergegeben und maßgeblich das Wahlverhalten beeinflusst. Das Pro-Trump Lager erhielt dadurch online großen Zuspruch, und Donald Trump wurde der 45. Präsident der USA.
Konzerne wie Google, Apple oder Facebook haben durch ihr digitales Wissen über die Gesellschaft einen mächtigen Datenschatz, der durch solche digitalen Methoden sehr schnell missbraucht werden kann.
Die Autoren Sunstein und Thaler haben in ihrem Buch über Nudging ethische Bedingungen für dessen Einsatz formuliert: Nudges müssen als solche erkennbar sein, sollten immer die Wahl lassen und dem Wohlergehen der Gesellschaft dienen. Aber was, wenn diese Ethik nicht befolgt wird? Es sind komplexe, schwer zu durchschauende neue Instrumente: die Beeinflussung ganzer Gesellschaften mittels Social Engineering, das sanfte Motivieren durch Nudging oder die aggressive Meinungssteuerung durch programmierte Bots. Sie treffen auf eine weitgehend unerfahrene Gesellschaft und werden vielleicht zur Gefahr, bevor sie als solche erkannt werden. Klimawandel, Flüchtlinge, Armut. Große Themen, die unsere Gesellschaft in Zukunft beschäftigen werden. Es wird zu einer großen Aufgabe werden, unsere Meinung vor der Manipulation durch die neuen digitalen Instrumente zu schützen. Dazu braucht es Spezialisten. Vielleicht eine neue Bewegung von Spezialisten, die sich im Netz auskennen und die Manipulationen entlarven können, bevor sie Schaden anrichten.
Das könnte die wirkliche große Aufgabe sein für die verborgenen Gruppierungen der Hacker und Netzrebellen, um die es in letzter Zeit etwas still geworden ist. Vielleicht sind sie im digitalen Meinungskampf der nahen Zukunft die letzten Hüter der Demokratie.
Aber bis dahin: wir müssen beginnen, aufmerksamer zu werden. Informationen, Nachrichten und Bilder hinterfragen, bevor wir sie kommentarlos mit Freunden teilen. Den Fake-News und digitalen Manipulationen widersprechen, wenn wir sie erkennen. Und Methoden wie Nudging ins öffentliche Gespräch bringen, damit wir den Zusammenhang zwischen einem Urinal mit Fliege und einer Wahlbeeinflussung verstehen lernen.
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/06/nudging-politik-verhaltensforschung-psychologie/komplettansicht
https://schweizermonat.ch/wird-facebook-bald-wahlen-entscheiden/#
https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_wissen/article154584139/Manipulation-2-0.html
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verhaltensforschung-am-buerger-politik-per-psychotrick-1.2386755-0#seite-2
https://de.wikipedia.org/wiki/Nudge#Beispiele
https://www.spektrum.de/news/wie-social-bots-den-brexit-verursachten/1423912
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/streit-um-preise-rewe-verzichtet-auf-barilla-pasta-100.html
https://www.tagesschau.de/inland/corona-hamsterkaufe-101.html